Konzept
Schräge Perspektiven – Welten verflechten
Es geht darum...
Verschiedenes und Verschiedenartiges spannungsvoll miteinander zu verknüpfen, ohne dass die jeweilige Besonderheit der verknüpften Elemente verloren geht.
Assoziativ Verknüpfungen herzustellen und auf diese Weise Welten zu verflechten.
Denken von einer rhizomatischen Struktur leiten zu lassen.
Beim Rhizom handelt es sich um ein Wurzelwerk, das sich ohne erkennbare Ordnung entwickelt. Es bildet Verzweigungen, Auswucherungen, Verknotungen und entwickelt sich kontinuierlich fort.
Am Rand Befindliches in die Mitte der Wahrnehmung zu rücken: Personen, Dinge, Gedanken, Gefühle, Deutungen …
Existenzielle Grunderfahrungen wie Liebe, Angst, Vertrauen, Verzweiflung, Glück unter religiöser Perspektive zu entfalten.
Altes, vermeintlich Bekanntes neu wahrnehmbar werden zu lassen durch Wahrnehmungskunst – Blickkunst – BlickArtistik, die schräge Perspektiven eröffnet.
Im Wissen darum, dass Kunst der Phantasie bedarf und Phantasie anregt, dass Kunst Deutungen anregt und verschiedene Deutungen zulässt.
Schräge Perspektiven / Welten verflechten – Streifzüge
Folgen Sie mir nach Rotterdam!
In Rotterdam gibt es ein neues Museum.1 Ein riesiger Bau, dessen Außenwände aus Spiegeln bestehen. Spiegel, in denen sich die Stadt spiegelt. Und innen? Wird das gezeigt, was sonst nicht gezeigt wird. Wird das gezeigt, was sein Dasein sonst im Depot fristet. 151.000 Objekte sind ausgestellt. Nicht in Schaukästen, nicht geordnet, nicht ausführlich beschrieben. Nein. Einfach eingelagert. Und die Besucher können daran entlangflanieren, können durch das Depot flanieren und staunen, zumindest über das eine oder andere, was sich dort zeigt. Auch Skurriles. Zum Beispiel ein Fahrrad, ausgestattet mit Vogel-Federn. Daran blieb ich hängen bei meinem Streifzug durch das Museum. Ein Fahrrad mit Schwingen, das sich erheben kann. Das war mein erster Gedanke dazu. Und dann fiel mir der Himmelsstürmer in Kassel2 ein. Ein Mann, der auf einem schräg nach oben aufsteigenden Balken gen Himmel läuft. Eine auf der Documenta 9 errichtete Skulptur. Man fragt sich, ob er dann am Ende des Balkens innehält. Oder ob er den Schritt darüber wagt und dann tief fällt, in sich zusammenfällt wie der Turm zu Babel, weil ihm der Größenwahn das Genick gebrochen hat. Oder ob sich ihm wie Jakob der Himmel öffnet, sodass er wie dieser im Traum mehr sehen kann als das, was sich im Wachzustand zeigt.
Das Vogel-Feder-Fahrrad fährt nicht den Balken hinauf. Es fährt auf der Straße durch die Stadt. Doch es zeigt an, dass es noch eine andere Möglichkeit gibt. Dass es das Potential hat zu fliegen, in andere Sphären aufzusteigen – wenn auch nur (?) in der Phantasie, der Imagination, im Traum für den, der es fährt. Transzendenzerfahrung mitten im Alltag. Bricht auf. Vielleicht.
Das Milchglas von Justin Bieber, aus dem er einst einen Shake trankt, findet sich nicht im Rotterdamer Depot. Es ist ersteigert worden von einem Fan. Mehr als 70.000 Euro wurden gezahlt für das Objekt, das eine vorausschauende Kellnerin nicht abwusch.3
Justin Bieber, US-amerikanischer Jungstar. Es mag viele Gründe geben, warum jemand 70.000 Euro für ein Milchglas, zumal ein gebrauchtes und ungespültes, ausgibt. Wobei es im Grunde gar nicht um das Glas oder die Milch geht, sondern darum, dass gerade Justin Bieber es in der Hand hielt, daraus trank und nicht nur Fingerabdruck, sondern auch Speichel von ihm daran zu vermuten sind. Ein Moment der Aura des Stars haftet nun an dem Glas. Die Nähe zum Milchglas verheißt die Nähe zum Star, auch dann, wenn dieser selbst tausende Kilometer entfernt ist. Mit dem Milchglas ist der Star da und nicht da. Ist er präsent und entzogen zugleich.
Ein interessantes Phänomen. Und die Assoziation zu Reliquien von Heiligen liegt nah. Ein reger Handel wurde damit getrieben, nicht nur im Mittelalter. Und die Kosten waren nicht unerheblich, zumal sich mit dem Besitz einer Reliquie auch Prestige und Ansehen verbanden. Die Nachfrage war hoch. Das Angebot wurde durch Fälschungen angepasst, die im besten Fall mit Echtheitszertifikaten versehen waren.4 Besonders eindrücklich ging es bei Splittern vom Kreuz Christi zu. In Spanien wurden ganze Wälder für die Produktion/Herstellung abgeholzt.5 Oder, und damit stellt sich wieder der Bezug zu Justins Milchglas her, die Muttermilch Marias, die in kleinen Gefäßen verkauft wurde.6
Dem Begehren danach trat die Unwahrscheinlich der Echtheit offensichtlich keinen Abbruch. Die Zuschreibung verlieh dem Ding seine Aura. Die Aura wurde so durch das Ding als gegenwärtig erfahren. Und mit der Aura war eine Erzählung verbunden. Eine Geschichte wird lebendig für den, der die Aura spürt, wahrnimmt, sich davon ergreifen, forttragen lässt in Gefühl und Imagination.
Die Kraft, die Macht der Erzählung7 vollbringt Wunder/kann Wunder vollbringen für den, der sich von ihr ergreifen lässt und auf ihre Wirkmächtigkeit vertraut.
Um Erzählung und Zuschreibung geht es auch beim christlichen Abendmahl. Wein und Brot werden in den Einsetzungsworten mit Deutungen versehen. Wein wird als Blut Christi und Brot als Leib Christi gedeutet. In Wein und Brot wird Christus beim Abendmahl als gegenwärtig geglaubt. Was wird mit Christus als gegenwärtig geglaubt?
Der israelische Schriftsteller Amos Oz bietet in seinem Roman „Judas“8 einen interessanten hermeneutischen Schlüssel.
Die Geschichte spielt in Jerusalem. Erzählt wird von Schmuel Asch, der sein Studium abbrechen muss und Unterkunft und Arbeit in einem alten Jerusalemer Haus findet. Schmuel Asch beginnt dort nach einiger Zeit wieder, sich seiner Forschungsarbeit zu Judas zu widmen und gerät in den Sog, den diese Figur auf ihn ausübt. Er beschreibt Judas als von den Pharisäern geschickten Spion. Judas soll sich der Gruppe um Jesus anschließen und Jesus der Gotteslästerung und des Aufruhrs überführen. Doch es kommt anders. Judas wird zu einem begeisterten Anhänger Jesu. Ich liebte ihn mehr als ich Gott liebte. Das lässt Schmuel Asch seine Judasfigur denken. Judas drängt Jesus, nach Jerusalem zu ziehen, um sich dort als der erwartete Messias triumphierend zu präsentieren. Jesus dagegen, voller Zweifel, gibt schließlich dem Drängen von Judas nach und wird wie zu erwarten war zum Tode am Kreuz verurteilt. Jesus wird vom Kreuz herabsteigen und seine Weltherrschaft errichten. Dessen ist sich Judas sicher. Doch all dies geschieht nicht. Mit Entsetzen sieht Judas, dass dort am Kreuz vielmehr seine Hoffnung elendig zugrunde geht. Sie haben, so schreit es in Judas, sie haben die Gnade und das Erbarmen getötet.9
Amos Oz bietet in seinem Roman eine hermeneutische Erschließung der Jesusfigur über die Metaphern Gnade und Barmherzigkeit. Barmherzigkeit und Gnade. Das ist das, was Menschen zum Leben, zu einem erfüllten Leben brauchen. Verbinden lassen sich damit Metaphern für Christus aus dem Johannesevangelium: Liebe, Licht oder Wahrheit. Die Geschichte von Jesus Christus ließe sich dann erzählen als Schicksal dessen, was die Menschen zu einem erfüllten Leben brauchen. Als Geschichte dessen, was Menschen heilen, erlösen, retten will. Und das, so erzählt es Oz mit Schmuel Asch, der Mensch zerstört, wenn er es erzwingen will.
Das Kreuz zeigt, dass die Liebe scheitern kann. Davon erzählt die Geschichte von Jesus Christus. Die Liebe lässt sich töten. Menschen verletzen und zerstören die Liebe. Sie scheitern an ihr und sie nageln sie gar ans Kreuz. Das lehrt die Erfahrung und davon erzählt christliche Religion. Doch sie erzählt auch davon, dass die Liebe dem Menschen treu bleibt auch dann, wenn er sie tötet. Sie bleibt ihm treu und geht durch den Tod hindurch und lebt, gezeichnet vom Tod. Das ist die Allmacht der Liebe, die sich machtlos, zuweilen gar ohnmächtig zeigt. Sie kommt wieder auf den Menschen zu, vielleicht in veränderter Gestalt, sodass sie erst nach und nach wieder erkannt werden kann.
Narrativ entfaltet wird dies in Geschichten, die von der Auferstehung Jesu erzählen. So steht Maria am Grabe Jesu. Und kann zunächst gar nicht erkennen, dass Jesus sich ihr nähert. Ihr gehen die Augen erst auf, sie sieht/erkennt ihn erst, als sie sich angesprochen fühlt.10
Beim Abendmahl wird Jesus Christus in Brot und Wein als gegenwärtig geglaubt. Deutewort und Ding stehen in einem unbedingten Wechselverhältnis, spiegeln einander.
Die Assoziation zu einem Gedicht von Hilde Domin11 stellt sich ein:
Wort und Ding
lagen eng aufeinander
die gleiche Körperwärme
Bei Ding und Wort
Beim Abendmahl werden Liebe,Barmherzigkeit, Gnade in Brot und Wein als gegenwärtig geglaubt. Liebe, Barmherzigkeit und Gnade, die durch das Kreuz hindurchgegangen sind und leben.
In der Erinnerung, in der Vergegenwärtigung wird das Erinnerte, das Vergegenwärtigte gegenwärtig.
Die erwachsene Frau lebte als Mädchen in der DDR.12 Sie schrieb Briefe nach Amerika, Australien, Afrika, zum Südsee-Atoll Funafuti. An Phantasie-Adressaten, wohnhaft in erfundenen Hotels. Warum tat sie das? Weil sie hoffte, dass die Briefe zurückkämen. Mit dem Vermerk: Return. Nicht zustellbar. Stempel und Notizen auf den Briefumschlägen in zahlreichen Sprachen. Return. Nicht zustellbar. Das gab ihr die Gewissheit, dass es diese Welt, in die sie nicht reisen konnte, doch gab. Dass sie tatsächlich existierte. Da war die Sehnsucht. So erzählt später ihr Sohn. Schon als Jugendliche hatte sie immer einen gepackten Koffer im Schrank stehen, von dem die Eltern nichts wussten. „Auf eine romantische Weise wollte sie weg. Politisch war das nicht. Es war Fernweh.“ Und nachdem die Mauer gefallen war, ist sie dann weit gereist.
Die Geschichte spielt mitten im Alltag. Eine Alltagsgeschichte. Mitten im Alltag reißt/bricht etwas auf. Geschieht etwas Unerwartetes. Zeigt sich eine neue, andere Möglichkeit. Taucht die vorfindliche Welt in ein anderes Licht. Erweitert den Horizont durch Imagination. Geleitet von Sehnsucht. Denn: „Was wir uns wünschen, wonach wir uns sehnen ist in irgendeiner Weise längst da.“13
Es wäre jetzt interessant, diese Geschichte, die sich wirklich abgespielt hat, als Gleichnis zu lesen im Spannungsfeld der biblischen Rede vom Reich Gottes, der Rede von Marx, dass Religion Opium des Volkes sei und dem Psalmwort aus Psalm 18,30: Mit dir erstürme ich Wälle, mit meinem Gott überspringe ich Mauern.
Zuletzt noch ein Blick nach Rotterdam. Auch die Werkstätten des Depot-Museums sind sichtbar. Fachleute sieht man dort bei der Arbeit. Tradition und Erinnerung werden gepflegt. Dinge, die niemandem und allen gehören, werden so über die Zeiten gerettet.
In der Fassade des Museums spiegelt sich die Stadt. Inzwischen ist auch das gefiederte Fahrrad im Spiegel der Stadt zu sehen, weil es den Weg nach draußen gefunden hat. Durch Imagination. Denn: Alles, was den Weg heraus aus dem Depot findet, zeigt sich auch im Spiegel der Stadt. Vielleicht ein Bild, eine Metapher für das hermeneutisch erschlossene Potential biblischer und religiöser Traditionsbestände.
Bildung, religiöse Bildung ist mehr als reines Faktenwissen. Bildung ist das, was den ganzen Menschen anregt, bewegt, verwandelt in seiner Sicht auf sich selbst, andere, die Welt, die Transzendenz, Gott.
Petra Schulz, Heimat rhizomatisch. Experimentell didaktische Zugänge. In: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie Heft 4 (2021) 421-421.
Petra Schulz, Schieferdachplatten. Annäherung an ein imaginäres Museum. In: Martina Kumlehn/Ralph Kunz/Thomas Schlag (Hrsg.), Dinge zum Sprechen bringen. Performanz der Materialität, Berlin/Boston 2022, 239-253.
1 Vgl. zum Folgenden Hanno Rauterberg, Im Funkelblau der Zukunft. Rotterdam bekommt ein neues Museumsdepot – und ja, das ist eine staunenswerte Nachricht! In: DIE ZEIT, Nr. 45, 04. November 2021, 68.
2 Abgerufen am 08.08.2022: https://www.kassel.de/buerger/kunst_und_kultur/man-walking-to-the-sky-himmelsstuermer.php
3 Abgerufen am 08.08.2022: https://www.n-tv.de/leute/Fans-von-Justin-Bieber-drehen-durch-article18882391.html
4 Vgl. Ulrich Köpf, Reliquien/Reliquienverehrung. Alte Kirche bis Reformation. In: RGG 7 (42004), 418-422; hier: 421.
5 Vgl. Philipp Blom, Sammelwunder, Sammelwahn. Szenen aus der Geschichte einer Leidenschaft. Frankfurt/M. 2014, 236.
6 Vgl. a.a.O., 239.
7 Vgl. Martina Kumlehn, Erzählkultur. Narrativität, narrative Identität und religiöse Bildung. In: Thomas Heller (Hrsg.), Religion und Bildung – interdisziplinär. Leipzig 2018, 293-305.
8 Amos Oz, Judas. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin 72015.
9 Vgl. Amos Oz, Judas. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin 72015, 162-170; 285-298.
10 Joh 20, 11-18.
11 Hilde Domin, Ich will dich. Gedichte. München 1970, 33.
12 Vgl. zum Folgenden Anja Meier, Return to Sender. In den Siebzigern schickte ein Mädchen aus der DDR Briefe in die Welt, an erfundene Adressen. Jetzt sind sie als Fotobuch erschienen. Die Geschichte einer Sehnsucht. In: DIE ZEIT, Nr. 1, 30. Dezember 2021, 24.
13 Ebd.